Merlyn Solakhan und Manfred Blank: Filme und Texte
Michelangelo Antonioni: Chronik einer Liebe - Sonnenfinsternis (1981)
Das erste Filmbuch, das in der nordwestdeutschen Einöde, in der ich aufzuwachsen gezwungen war, in meinen Besitz geriet, war Pierre Leprohons (von Lotte Eisner übersetzte) Monographie über Antonioni. Das war kurz nach der Mitte der 60er Jahre, und ich war ein melancholisch vor mich hin Pubertierender mit einer schmalen kinematographischen Bildung, die ihr Äquivalent in meinem Geldbeutel fand. Die Bildung verdankte ich dem monatlichen Filmclub im Haus der Jugend. Kino konnte oder wollte ich mir nicht leisten. Ich bekam kein Taschengeld und hatte mit dem auszukommen, was mir meine Ferienarbeiten und das Austragen des evangelischen Gemeindeblatts einbrachten. Bücher lieh ich mir in Bibliotheken aus. Und ich lieh viele Bücher aus. Bis heute ist das für mich die Normalität, und der Besitz eines Buches die Ausnahme. Ich war weder zum Bibliophilen noch zum Cinéphilen geboren. Im Haus der Jugend muss ich also Antonionis Il grido gesehen haben. Meinem von Sartres Existenzialismus angekränkelten Gemüt gefiel die Melancholie des Films, die von Giovanni Fuscos todtraurigem Andantino in die höchsten Höhen erhoben wurde. Halb trunken von Schmerz konnte ich mich tief versenken in das neblige und verregnete Grau der Poebene, die ich fälschlicherweise für eine Seelenlandschaft hielt. Da sah ich im Ramsch bei der Buchhandlung Wenner an der Großen Straße das Antonioni-Buch, schob alle Bedenken beiseite und kaufte es mir für 50 Pfennig. An dem Buch gefiel mir die Weltläufigkeit der Darstellungen, die Empörung, mit der geschrieben wurde von den "Pfiffen für ein Genie" auf den Filmfestivals dieser Welt - und ein Photo von Dreharbeiten. Ich vermute, dass es die zu Il grido waren. Belegen kann ich das nicht. Das Buch ist mir abhanden gekommen, wohl bei einem meiner zahlreichen Umzüge. So muss ich auch das Photo, statt es hier abzubilden, heraufbeschwören aus der Erinnerung. Ich bin mir bewusst, wie lachhaft falsch das sein kann, was ich hier skizziere. Die Photographie zeigt den Meister recht nah in einer grauen Landschaft, die eine Steilküste an einem Meer oder einem See sein kann. Er trägt Regenmantel und Regenhut, spricht oder schreit, nein: ruft laut in ein Megaphon oder eine Flüstertüte, und in seinem hohlwangigen Gesicht scheint auf die Passion des Schmerzensmannes. Dieses Photo hat mich ein ganzes Leben lang begleitet. Wer weiß, vielleicht trägt es die Schuld daran, dass ich nicht Schriftsteller geworden bin, wie ich es wohl ursprünglich wollte und mir nicht eingestand, sondern Filmemacher. Auf jeden Fall aber war es dieses Photo, das mich dazu brachte, diesen Kompilationsfilm hier zu machen. Der logischerweise dann nur von den Filmen spricht, die dem Schwarzweiß meiner Erinnerung entsprachen, also bei Cronaca di un amore beginnt und bei L'eclisse endet. Gott sei Dank hatte ich meine kinematographische Bildung in der Zwischenzeit etwas verbreitert und gelernt, dass der Kinematograph, weil er angewiesen ist auf die Photographie, ein Handwerk der Oberfläche ist. Statt, wie es 1981 üblich war - ach, was schreibe ich, selbst heutzutage noch ist es so -, von Tiefe und Einsamkeit und so fort zu sprechen, zeige ich die Oberflächlichkeit in den Werken des Meisters, die Oberfläche als die Tiefenstruktur.
Aber genug des dunklen Munkelns. Hier der ganze Film. (wird demnächst hochgeladen)