top of page

Cité de Péra

 

 Unser Film ist entstanden als Beitrag zu einem der regelmäßigen Themenabende des deutsch-französischen Kulturkanals arte. In unserem Fall ging es um eine Annäherung an die Gedankenwelt des Philosophen und Kulturhistorikers Walter Benjamin. Walter Benjamin, deutscher Schriftsteller jüdischer Herkunft, war in Berlin und Paris zu Hause. Von den Nazis gejagt, starb er auf der Flucht an der spanischen Grenze. In seinem Passagen-Werk, das lange nach seinem einsamen Tod veröffentlicht wurde, versucht er, ausgehend von den Passagen im Paris der 30er Jahre, eine Enzyklopädie des 19. Jahrhunderts zu schreiben, eine Vorgeschichte der Industriegesellschaft.

   Wir wiederum haben, ausgehend von der Ähnlichkeit dessen, was Benjamin beschreibt, und dem, was man in Pera bzw. BeyoÄŸlu, wie heute die Istanbuler Türken sagen, und seinen Passagen sehen kann. Wir haben versucht, Benjamins Art und Weise der Beschreibung kultureller und historischer Phänomene uns zu eigen zu machen für eine Fahrt, einen Besuch in BeyoÄŸlu und einen Gang durch seine Geschichte. So ist ein Film entstanden, der einerseits Pera beschreibt, andererseits – dafür ist er ja gemacht worden – die Schreibweise Walter Benjamins anwendet auf ein konkretes, gleichzeitig historisches und gegenwärtiges Phänomen: Pera. Darum, Pera ganz, d. h. in seiner Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, zu erfassen, ging es nicht.

  Die Straße zwischen der oberen Station des „Tünel“ – das ist eine mit Seilzügen betriebene Untergrundbahn, eine der ersten Metros der Welt – und dem Taksim-Platz, trägt den Namen Istiklâl Caddesi – „Straße der Unabhängig­keit.“ Das ist erst so, seit es eine türkische Republik gibt, und der Name meint nicht eine abstrakte Unabhängig­keit, sondern er bezieht sich auf den sogenannten Befreiungskrieg 1920 – 1923 und dessen Ergebnis, auf jenen  Zeitraum also, in dem die heutige, lange Zeit kemalistische Türkei erst entstand. „Unabhängigkeit“ bedeutete für die jungtürkischen und später die kemalistischen Politiker zuerst einmal Entmachtung und Vertreibung der Ausländer in der Türkei, und so geriet die Umbenennung dieser Straße zu einem ebenso symbolischen wie hand­greiflichen Akt, sie enthielt gleichzeitig politische Programmatik und konkretes Massaker.

  Grande Rue de Péra hieß die Straße vorher, über mehrere Jahrhunderte hin. Pera war jene Ortschaft, in der die Europäer und die Levantiner wohnten, auch die Juden. Pera war die Stadt in der Stadt; und wenn man Paris die Hauptstadt des 19. Jahr­hunderts nennt, so war Pera der Hauptort Konstantinopels im 19. Jahrhundert, mit allem, was das bedeutet; und La Grande Rue de Péra das war der Kern des Zentrums.

 

  Praktisch alle Botschaften – und da natürlich besonders die französische, englische, russische, italienische und deutsche – hatten ihren Sitz in der Grande Rue de Péra. Im 19. Jahrhundert konzentrierte sich also die Politik der politischen Einflussnahmen auf diese Straße, und sie wurde deren Symbol: die Grande Rue de Péra war der heimliche Regierungssitz.

  Doch die Grande Rue ist auch das Repräsentationsstück der zahllosen im Reiche lebenden Minderheiten. Die Mitglieder der verschiedenen Nationali­täten gaben der Metro­pole das Gepräge und spielten eine entscheidende Rolle im sozialen System. Das ist in Pera über Jahrhunderte so ge­wesen.

  Diese ethnische, kulturelle und religiöse Vielfalt ist im Laufe der letzten 90 Jahre praktisch verschwunden, nur ein paar Spuren sind noch davon zu finden; und die Haupt­straße dieses kosmopolitischsten Stadtteils der kosmopoli­tischen Stadt hat fast all ihren Glanz verloren.

  Sie hat ihn verloren, weil die Minderheiten verschwunden sind, weil Völkermord und eine schier endlose Reihe von Massakern und Pogromen und natürlich die ihnen zugrundeliegende Politik über­haupt sie vertrieben hat.

​

​

​

​

​

​

​

​

​

​

​

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wenn ich heute in Istanbul mit Leuten ins Gespräch komme, sehe ich, dass dieser Verlust jetzt erst begriffen wird, dass er sich äußert in der Form einer Pera-Nostalgie, in einem Heimweh nach alten Zeiten. Man fragt mich nach meiner Familie, hört, die Augen und Ohren weit geöffnet, dass mein Vater Armenier war und meine Mutter Griechin, dass ich in zwei Sprachen – griechisch und türkisch – und in zwei Religionen – armenisch-katholisch und griechisch-orthodox – aufgewachsen bin. Ich habe als Kind gelernt, das zu verbergen, heute wird es – in Istanbul zumindest – bestaunt. Es erscheinen Bücher mit Photographien aus dem Pera der Dreißiger, mit Adressenlisten der Einwohner, Geschäfte und Unternehmen in Pera um 1900, zwischen Tünel und dem Taksim-Platz verkehren wieder die alten roten Straßenbahnwagen und die Leute schauen mich manchmal wehmütig an. Und viele davon meinen zu gewärtigen, dass sie eigentlich auch keine richtigen Türken sind, weil die Mutter von der Krim, der Vater aus Bulgarien, die Großmutter aus dem Kaukasus oder der Großvater aus Ägypten kam.

  Wir haben den Film 1996 gedreht. Das ist, von heute aus gesehen, fast wie eine Ewigkeit.

  Wir näherten wir uns skeptisch den Dreharbeiten, denn zum einen ist es nicht so einfach, etwas zu zeigen, was es nicht mehr gibt, und zum anderen wussten wir, mit der Leidenserfahrung von früheren Projekten, dass die Angehörigen der Minoritäten schweigen und öffentlich nicht reden. Zwar hatten wir davor immer Respekt und würden niemals jemanden provozieren, etwas zu äußern, was für ihn und seine Familie und sein Umfeld gefährlich ist. Andererseits aber sind wir weder willens noch dazu da, Loyalitätsbekundungen gegenüber dem türkischen Staat aufzunehmen. Aber, wie es manchmal so ist im Leben: Wer suchet, der findet. Manchmal gilt das auch für das Leben der Dokumentarfilmer.  

  Uns kam also diesmal der Zufall zu Hilfe, wir hatten Glück, wenn man so will. Darüber sind wir heute froh. Froh sind wir auch darüber, es gewagt zu haben, den Film in Angriff zu nehmen, besonders weil keiner unserer Protagonisten mehr lebt. Der Film hält sie und ihre Erzählungen fest und hält die Erinnerung an diese Personen für immer am Leben.

​

Die Projektbeschreibung für den Film in der letzten Fassung von 1995, also ein Jahr vor Beginn der Dreharbeiten, finden Sie hier.

​

​

Die Hutmachrin Arlet aus de "Grande Ruede Péra"
bottom of page