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Still: Der Schattenspieler Metin Özlen beim Verfertigen der Figur eines Çelebi
Inhalt
 
- Ist es ein Film?
- 16 mm Farbe, 81 Minuten; 116 640 mal die Wahrheit; was sollte es also anderes sein als ein Film?
- Ist es ein Spielfilm? Ist es ein Dokumentarfilm?
- Es ist ein Theaterfilm, eine sitcom, ein Dokumentarfilm über verschiedene Gegenstände, ein Biopic und ein Musical.
Theaterfilm. Zwei der letzten Istanbuler Hayali/Schattenspieler, wie sie das Karagözspiel Kayık / Das Boot aufführen.
Situationskomödle. Sowohl in Karagöz' als auch in Hacivats Haus sind die Lebensmittel knapp geworden und, schlimmer als das, die beiden Ehemänner können dem Verlangen ihrer Frauen nach wertvollen Juwelen nicht entsprechen; die Frauen machen sich auf zum Hafen, um sich mit richtigen Männern einzulassen. Die armen Ehemänner raffen sich zu einem Broterwerb auf; sie wollen Passagiere befördern in einem abgetakelten Boot, das bei Hacivat herumliegt.
Dokumentarfilm über verschiedene Gewerbe. Metin Özlen schneidet das tasvir/die Figur eines Çelebi. Karagöz und Hacivat arbeiten als Fährleute am Goldenen Horn und am Bos
porus. In einem Kaffeehaus in BeÅŸiktaÅŸ wird Tee bereitet und serviert. Onat Kutlar und Cevat Çapan schildern die Oganisations-formen der Schattenspielerzunft.
Biographischer Film. Leben und Werk des deutschen Orientalisten Hellmut Ritter, der den größten Teil seines Arbeitslebens in Istanbul zugebracht hat und dem wir fast alles verdan
ken, was wir heute über das Karagözspiel wissen.
Historischer Dokumentarfilm. Das türkische Schattentheater als Spiegel der Geschichte der großen Stadt, die zu zwei Kontinenten gehört, erzählt von Andreas Tietze und Robert Anheg
ger.
Musical. Der hayali und seine Musiker, wie sie elf traditionelle türkische Kunstlieder singen und spielen. Wie in jedem Karagözspiel.
 
Zu diesem Film
Über siebzig Jahre waren vergangen seit der Zeit, als Ritter, der deutsche orientalistische Leutnant, in Konstantinopel seine 'Aufnahmen' gemacht hatte. Die Stadt hieß seit langem schon Istanbul, und wir bereiteten uns vor auf eine archäologische Expedition.
Wo Ritter noch etwas hatte betreiben können, was zu der Zeit den Namen 'oral history' noch nicht trug, würden wir vor Ruinen stehen oder vor ganz neuen Häusern, für welche die alten Säulen als vorgefundenes Baumaterial benutzt worden waren.
Aber war es nicht von Anfang an Archäologie gewesen, auf was wir abgezielt hatten? Die Erinne-
rung an das Kino der allerersten Zeit, dass es der niederen Kultur, dem Rummel, dem Jahrmarkt zugehört hatte und nicht der Kunst? Dass der literarische Realismus sein garstiges Haupt noch nicht erhoben hatte. Dass es eine öffentliche Darstellung der Lust am reinen Schwachsinn gab, gepaart mit einem Hang zur Destruktion und Chaotik. Die Idee also war, dass es hier ein ursprüngliches Kino gegeben hatte, bevor es das Kino gab. Vor der Entdeckung des Trägheitseffekts eine Form, die auf dem Vergnügen an bewegten transparenten Figuren basiert, die da nicht die Welt, sondern nur ein Viertel einer großen Stadt bedeuten wollten. Archäologie des Kinos.
Es ist blöd und kurzsichtig, das weiß man, das Auftauchen des Fernsehens in einen direkten Zusammenhang zu stellen mit dem Niedergang des Kinos; richtig ist aber vielleicht, dass die Formen, die sozusagen Aus-Druck einer gesellschaftlichen Organisation sind, mit deren Umwälzung ihre privilegierte Stellung abtreten müssen. Insofern, wie wir es bei Victor Hugo und Färber lesen können, tötet jenes dieses (dort der Buchdruck den Kathedralenbau). So hat, wie das Fernsehen das Kino, das Kino das Karagözspiel getötet.
Von dem sozialen Milieu, in dem das Karagözspiel allein entstehen konnte, kann - das versteht sich - siebzig Jahre nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches keine Rede mehr sein. Es bedarf eines sehr insistierenden Hinschauens, um eine Gesellschaftsform, die wir nicht mit dem angeblich von einem ehemaligen CDU-Generalsekretär in die Welt gebrachten Begriff multikulturell besudeln möchten, noch in ihren letzten Ausläufern wahrzunehmen. Die Minder
heiten, gleich welcher Provenienz, bestimmen nicht mehr das Erscheinungsbild der Stadt. Auch davon musste gehandelt werden, weil das Karagözspiel, zu einer türkischen Nationalkunst umgeformt, in diesem Umformungsprozess sich selber zum Verschwinden bringt.
Die Fähigkeit, das Spiel zu spielen, das Handwerk also, ist traditionell mündlich überliefert worden, von einer einzelnen Person einer anderen. Als Ritter 1918 in Konstantinopel seine Aufnahmen machte, beginnt die Eule ihren Flug und der Orientalist malt sein Bild grau in grau. Die Überlieferung wird dünner und dünner. Wir haben 1989 in Istanbul ein Karagöz
spiel  - nach dem plötzlichen Tod von Nevzat Açıkgöz, dem dieser Film gewidmet ist - nur noch aufnehmen können, indem wir die Fähigkeiten zweier Schattenspieler kombinierten: die Zungen-und Fingerfertigkeit sowie das historische Bewusstsein Metin Özlens mit der großen Musikalität Orhan Kurts. So ist vielleicht, zu einem ersten und letzten Mal, noch etwas Ganzes zusammengekommen. Und so sind wir glücklich, dass herauskam, was der eine Sinn des Kinematographen ist - Festhalten des einen unwiederbringlichen Augenblicks. Bescheiden geprahlt.
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Von dem Forumsblatt aus dem Jahr 1991 (Autor: Manfred Blank), mit wenigen kleinen Änderungen
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