Merlyn Solakhan und Manfred Blank: Filme und Texte

Hier und dort - Erzählungen Eingewanderter
Anfang der sechziger Jahre - man mag es kaum mehr glauben - herrschte in der BRD Arbeitskräftemangel. »Gastarbeiter« wurden angeworben; es kamen Süditaliener, Griechen, Spanier, Portugiesen und - dies, nach den ersten gelegentlich sehr chaotischen Erfahrungen, quasi auf einer offiziellen, gleichsam Staatsebene organisiert - die Türken. ln der ersten Phase jedoch - man hat das fast schon wieder vergessen - waren es nicht so sehr Türken, sondern viel mehr Türkinnen, die kamen; nein, die herbeigeschafft wurden. Man brauchte »fließbandtaugliche«, junge und manuell geschickte Arbeitskräfte für die kräftig expandierende, auf der damals neuen Transistor-Technik basierende elektronische Industrie, Arbeitskräfte mit Feingefühl in den Fingern. So lag der Gedanke nahe, junge Frauen zu bevorzugen, womöglich noch solche, die schon eine Ausbildung als Schneiderin hatten.
Vom Istanbuler Bahnhof Sirkeci gingen die Züge aus, ein neuer Orient-Express, diesmal in umgekehrter Richtung. ln München wurden dann, mit Hilfe der Bahnhofsmissionen und von Beauftragten der Firmen, die Arbeitskräfte auf die verschiedenen Zielorte in der BRD und West-Berlin verteilt. West-Berlin, seit längerem Insel im kommunistischen Feindesland, seit kurzem ummauert, litt zudem an Auszehrung und chronischer Überalterung; die Politik suchte dem, mit allerlei Sonderprogrammen, Vergünstigungen und Subventionen, gegenzusteuern; kein Wunder also, dass dorthin sich ein großer Teil der zuströmenden Arbeitskräfte ergoss.
1991 und 92 drehte ich (Merlyn Solakhan) Gespräche mit über fünfundzwanzig Frauen. Mit türkischen Frauen der ersten Einwanderergeneration.
Das Wort »Generation« bezeichnet dabei nicht eine Gruppe von Menschen mit einem durchschnittlichen Altersunterschied von etwa fünfundzwanzig Jahren, also dem Unterschied von der Gruppe der Eltern zu denen der Kinder, sondern hat einen spezifischeren Sinn, welcher der Realität, dem Alltag und damit einer gemeinsamen, kollektiven Erfahrungswelt sehr viel näher ist. Die Einwanderer selbst, die Türkinnen und Türken, unterscheiden bis jetzt, das heißt in der Zeit ab 1961, drei Generationen.
Die erste Generation, das sind die, die gekommen sind im Rahmen der staatlichen Vereinbarungen über die Anwerbung türkischer Arbeitskräfte für die an Kräftemangel leidende deutsche Wirtschaft. Die zweite Generation, das sind die, die gekommen sind im Rahmen der Vereinbarungen über Familienzusammenführung, der Regelungen also über den »kontrollierten Nachzug von Familienangehörigen«. Und die dritte Generation schließlich, das sind diejenigen Türkinnen und Türken, die bereits hier in Deutschland geboren sind.
Wirtschaftlich gesehen ist also die Lebenswelt der ersten Generation geprägt von der bundesdeutschen Hochkonjunktur, die der zweiten Generation von der Rezession und die der dritten von der stark zunehmenden Arbeitslosigkeit. Will man es etwas pointiert formulieren, so ist die erste Generation freundlich bis reserviert aufgenommen worden, mit der zweiten in ghettoähnliche, »parallele« Lebenszusammenhänge gedrängt worden, und hat zusammen mit der zweiten und dritten Generation die real existierende, sich mit brutaler Gewalt äußernde Ausländerfeindlichkeit erleben müssen.
Ich ging vor nach einer Methode des reflektierten Zufalls. Ich selbst, die ich seit dem Ende der 70er Jahre in Deutschland lebe, bin Mitglied der »Gemeinde der Eingewanderten« und habe im Laufe der Jahre hier in Berlin viele Türkinnen der ersten Generation kennen gelernt. Einige davon habe ich befragt, durch sie habe ich andere Gruppen von Frauen der ersten Generation kennenlernen können, die immer noch als Gruppe sich empfinden, obwohl sich ihre Lebenswege längst getrennt haben, so etwa besonders die der »Telefunken-Gruppe«, Frauen, die, meist erst um die zwanzig, in den Jahren 1963/64 nach Berlin gekommen sind und längere Zeit im Arbeiterinnenwohnheim der Firma Telefunken zusammengelebt haben, und der Kidöp-Gruppe, Frauen, die, als Arbeiterinnen hergekommen, jetzt in einem Projekt der Sozialarbeit Sprach- und andere Kurse für türkische Frauen geben und sie betreuen. Schließlich hatte ich, in einem meiner vorhergehenden Filme, die Bekanntschaft junger Türkinnen der zweiten und dritten Generation gemacht, die Mitglieder einerseits des Klubs Umutspor, andererseits der deutsch-türkischen Laientheatergruppe Kulis sind. Ein Teil ihrer Mütter gehört zu den von mir ausgewählten Frauen der ersten Generation.
So bin ich vorgegangen, Schritt um Schritt, nach dem Prinzip des Schneeballs - und habe schließlich vor mir eine große Zahl von vielfältig unterschiedenen Frauen gefunden. Wenn die Auswahl vielleicht auch nicht repräsentativ ist, was nie das Bemühen gewesen war, so stellt sie doch einen eindrucksvollen Querschnitt dar der Frauen der ersten Generation.
Ich traf auf Frauen, die erzählen wollten, die gleichsam auf mich gewartet zu haben schienen, damit ihre Geschichten, ihre Erlebnisse, ihre Erfahrungen mitgeteilt und festgehalten würden. Ihre Erzählungen waren immer geprägt von dem persönlich Erlebten, niemals gefiltert von Ideologie, politischer oder persönlicher Rücksichtnahme oder den Rastern der ständigen Verlautbarungen. Der Camcorder, den ich dabei hatte und mit dem ich aufzeichnete, war nicht ein Störfaktor, sondern eher ein Stimulans, er setzte dem Willen zur Mitteilung ein Ziel. Wie das mündliche, vorliterarische Erzählen der Zeit vor unserer Zeit, war es eine Unterhaltung, die eine Mitteilung war.


Gemälde der türkischen Künstlerin Gülsün Karamustafa
Dieses Gemälde dient dem Maxim-Gorki-Theater Berlin als Logo seines 7. Herbstsalons ЯE:IMAGINE vom 2.10. bis zum 30.11.2025. Die Start-Premiere, das Theaterstück The Red House, und der Teil Eine Inventur 2025. Stresemannstr. 30 der Kunstausstel-lung sind zu einem großen Teil inspiriert von unserem Film. Das findet keine Erwähnung, aber immerhin ist der Film Teil des Rahmen-programms (Filmvorführung am 24.10.2025, 17h, Gespräch mit Merlyn Solakhan und anderen migrantischen Filmemacherinnen am 23.11.2025, 18h30, jeweils im Roten Salon des Maxim-Gorki-Theaters Berlin).



Der Film ist eine no-budget-Produktion. Ich hatte für 1991 ein kleines Stipendium im Bereich Frauenforschung erhalten. Wir gingen zum Offenen Kanal Berlin, damals ein Pilotprojekt zur Bürgerbeteiligung in Medien, heute längst vergessen. Ich als Filmemacherin wollte meine Feldforschung natürlich mit Kamera und Mikrophon durchführen. Der Offene Kanal hat uns Beistellungen in Form einer S-VHS-Ausrüstung und kurzen Terminen an Schnittplätzen gewährt. Sie verpflichteten uns dazu, Sendematerial zur Verfügung zu stellen. So entstanden zwei Teile mit einer Gesamtlänge von etwa drei Stunden, die dann 1992 vom Offenen Kanal gesendet wurden. Wiewohl der Offene Kanal über das Berliner Kabelnetz verbreitet wurde, erfolgten diese Sendungen weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Das Ergebnis, wieder zusammengesetzt, gefiel uns, was die Montage angeht.
1992, als ich gerade die Dreharbeiten mit über fünfundzwanzig Frauen - mit türkischen Frauen der ersten Einwanderergeneration - abgeschlossen hatte, loderte der stetig eskalierende Rassismus auf in den Morden und Pogromen von Mölln, Solingen und Rostock. Heute denke ich, dass meine Vorahnungen, meine noch unbestimmten Empfindungen mich dazu gebracht haben, diese Arbeit anzugehen. Es war eine Qual, in diesen Jahren in Deutschland zu leben.
Die Produktionsbedingungen hatten zu etlichen Problemen geführt, die man nur mit sehr viel Geld und/oder Zeitaufwand hätte beheben können: statt der wünschenswerten Untertitel technisch fragwürdiges Voice-over, unperfekte Lichtbestimmung, technische Schnittfehler aufgrund des allerhöchstens semi-professionellen Schnittplatzes, unschöne Titel etc. Andere Arbeiten drängten, wir legten den Film erst einmal zur Seite. Ab und an zeigten wir Teile davon Freunden und Bekannten, immer wieder mussten wir von dem Film erzählen und wurden ermuntert, ihn erneut zu veröffentlichen. Das war nicht nur wegen der mangelnden Zeit schwierig, sondern auch wegen der umständlichen und kostenintensiven Technik bei analogem Video. Anfang der 90er Jahre hatte das Zeitalter des digitalen Schnitts mit den ersten Anlagen von AVID gerade erst begonnen. Sie verfügten aber über wenig Speicherplatz und waren sündhaft teuer. Knapp zehn Jahre später, um die Jahrtausendwende, waren sie dann schon weit verbreitet. Auch Produktionen mit kleineren Budgets konnten sich, bei guter Vorbereitung des Schnitts, solche Studios nun leisten. Zu der Zeit haben wir unsere Filme, noch auf dem analogen Beta SP gedreht, auf diese Weise geschnitten. Wir schlugen einer uns bekannten TV-Anstalt eine Weiterführung von Hier und Dort vor, zehn Jahre später, unter Verwendung des Materials von 1991/92. Wir fanden aber kein Gehör, obwohl die Befürchtungen unser Prota-gonistinnen und meine Vorahnungen sich in Mölln, Rostock, Solingen und anderswo auf die schrecklichste Weise bewahrheitet hatten.
Wir mussten erleben, dass die Serienkiller des sogenannten NSU ein Jahrzehnt lang unbehelligt ihr Unwesen treiben konnten. Die Schützer der Verfassung und die deutschen Polizisten gefielen sich in der Verunglimpfung der Opfer und ihrer Familien – und damit in gewisser Weise der gesamten Gemeinschaft der Migranten in Deutschland – als Mafia-Mitglieder, statt ihrer eigenen Blindheit auf dem rechten Auge gewahr zu werden.
Wir erreichten ein fortgeschrittenes Alter. Unsere Produktionsmöglichkeiten waren eine nach der anderen weggebrochen. Die digitale Videoherstellung aber war in den Bereich der Consumer so weit vorgedrungen, dass der greise Godard meinte, heutzutage würden Filme vorzugsweise auf dem Smartfone gedreht. Also haben wir im Jahr 2023 den Film in einem langwierigen Arbeitsprozess digitalisiert und nach über 30 Jahren restauriert. Diese Arbeit, die wir so lange vorhatten und als eine Pflicht gesehen haben, ist somit endlich zu einem guten Ende gekommen.
Das fügt dem Film eine weitere Zeitebene hinzu. Mit dem Geschehen der letzten 30 Jahre im Kopf blickt der Zuschauer auf die Frauen, die sowohl von ihrer Gegenwart Anfang der 90er Jahre als auch von ihrer Einwanderung 30 Jahre früher erzählen. Je dreimal die Veränderungen hier, in Deutschland, und dort, in der Türkei.
Oktober 2025, Merlyn Solakhan