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Still aus dem Spielfilm "Tekerleme", 1985, von Merlyn Solakhan: Zümrüt Pekin und Hakkı Mısırlıoğlu vor dem Mağlova-Aquädukt bei Istanbul

Zwei Ankündigungen

 

Erstens

Berlinale – Forum – 1986

 

Inhalt

 

Nachdem er seine Frau zu einem Zug gebracht hat, der in den asiatischen Teil der Türkei fährt, trifft ein junger Mann auf dem Fährschiff, das zwischen dem Bahnhof Haydarpaşa und Karaköy verkehrt, eine Bekannte aus früherer Zeit, die gerade nach längerer Abwesenheit (sie hat wohl mehrere Jahre im Ausland verbracht) wieder in Istanbul angekommen ist. Das Schiff fährt ins Goldene Horn ein, man sieht die Altstadt von Istanbul, vom Leuchtturm vor dem Topkapı Sarayı an bis zur Anlegestelle nahe der Galata-Brücke [und hört eine byzantinische Hymne, in der die Stadt der Gottesmutter übereignet wird, die sie vor Zerstörung und Untergang bewahrt habe].

Die heimgekehrte junge Frau versucht, alte Freunde zu erreichen; sie sind unbekannt verzogen, Telephonnummern stimmen nicht mehr, auch Straßennamen haben sich geändert. Sie geht durch die Stadt. In einer Werbeagentur (in der er offensichtlich arbeitet) wird der junge Mann von einem Kollegen in ein absurdes Gespräch über die Formulierung einer Stellenanzeige verwickelt; er verlässt den Raum und erwirbt in einer Schiffsagentur ein Ticket. Wieder in der Werbeagentur, improvisiert er mit einem anderen Kollegen mit Werbeslogans ein philosophisches Sprachspiel. Die Heimkehrerin besucht ihn in seinem Büro, wird jedoch sofort von seinem Kollegen, der ihr Bruder ist, in Beschlag genommen.

Ein nächtliches Gartenfest sieht sie alle vereint. Auch ein Schriftstellerfreund namens İzzet Yasar, von dem schon die Rede war, ist dabei. Es wird getrunken, gesungen; Dialoge, die aus Zungenbrechern bestehen, werden improvisiert, der Bruder erzählt, was beim Kauf von Austern zu beachten ist und wie Hummer auf amerikanische Art bereitet werden; der junge Mann zitiert aus einem Artikel über empfehlenswerte Geldanlagemöglichkeiten in der Türkei.

In der Morgendämmerung spazieren İzzet Yasar, der aus einer Taschenflasche Whisky trinkt, und der Bruder am Bosporus entlang. Sie zitieren aus einem Gedicht, erinnern sich, wie sie vor Jahren einen pelzbekleideten Mann an genau dieser Stelle ins Meer geworfen haben und sind sich über Kino und Literatur nicht einig.

Sie gehen zusammen in Yasars Hotelzimmer, das dieser seit längerem bewohnt, Zimmer 308 im Pera Palas Hotel. Während der Bruder schläft, bereitet Yasar sich einen Tequila-Cocktail und trinkt ihn, während er Renaissance-Musik hört. Während der Bruder das Hotelzimmer verlässt, liegt Yasar hingestreckt auf einer Sitzbank. Ein Polizeibeamter holt bei einer Putzfrau, die die Leiche Yasars gefunden hat, Erkundigungen ein. Der junge Mann geht durch Istanbuler Straßen, ab und an notiert er sich etwas (offensichtlich für ein Gedicht, von dem schon vorher die Rede war); die Straßen tragen Namen wie Scharfer Stift und Solider Gedanke. Er kommt zu spät zu einer Verabredung mit der jungen Frau in einem Teegarten. Sie lesen sich aus Zeitungen Schlagzeilen vor.

Sie machen eine Ruderpartie auf dem Meer.

Das Geschwisterpaar macht einen Ausflug zu einem byzantinischen Aquädukt. Sie deklamieren eine Szene aus 'Macbeth', in der zwei Hexen einen Zaubertrank bereiten. Der Bruder will seine Schwester, die daran denkt, sich für die Zukunft in İstanbul niederzulassen, dazu überreden, ihr Erbteil mit in eine zu gründende Firma zu stecken.

Die Schwester und der junge Mann verbringen eine Nacht in der Wohnung des Mannes, es ist die letzte Nacht vor seiner Abfahrt in die Ferien. Sie führen ein Streitgespräch mittels İstanbuler Straßennamen.

Sie verabschieden sich am nächsten Morgen vor dem Haus; eine Schulklasse skandiert in der Nähe eine Morgenparole.

Die junge Frau versucht wieder, alte Freunde zu erreichen; sie sind unbekannt verzogen, Adressen haben sich geändert, sie sucht herum in İstanbuler Gassen.

lm Pera Palas Hotel wird ihr das Zimmer 308 zugewiesen. Sie wirft ihre Schuhe in die Ecke und tritt auf den Balkon. Unten vor dem Hotel gehen gerade in einem Lunapark die Lichter an. Ein beleuchtetes Riesenrad beginnt, sich zu drehen.

Aus dieser Inhaltsangabe kann man nicht erfahren, worum es in dem Film geht.

Manfred Blank

 

 

Zweitens

15. Internationales Festival des unabhängigen Films, Istanbul 2016

 

Ein vergessenes Meisterstück, das zum ersten Mal seit 30 Jahren gezeigt wird.

 

Es ist 1985. Eine Frau mäandert durch die Straßen İstanbuls  fünf Jahre nach dem Militärputsch. Es ist etwas verloren gegangen, und die Luft ist angefüllt mit einer Fremdheit, die alle zu quälen scheint. Freundschaft, Unterhaltungen, Langeweile, Verwunderung und Hoffnungslosigkeit bringen die Frau dazu, in der Hoffnung auf Veränderung zur Insel aufzubrechen. Was bleibt nach alldem? Mit Mustafa Irgat und Zümrüt Pekin in den Hauptrollen hatte dieser wunderbare Erstlingsfilm von Merlyn Solakhan auf der Berlinale 1986 seine Premiere. Bis heute vergessen, gewinnt 'Tekerleme' eine neue Bedeutung. Ein Film, der damals nicht als politischer Realismus etikettiert werden konnte, tritt jetzt in einen Dialog mit den Realitäten und dem Kino der Gegenwart. Mit der ersten öffentlichen Vorführung in 30 Jahren schafft der Film Reime, die auf eine äußerst originelle Weise in singuläre Momente sich umformen, und weist darauf hin, dass das sogenannte türkische Kino ungewöhnliche ästhetische Wendungen hätte vollführen können, wenn es einen anderen Weg genommen hätte.

Website des Festivals

 

Vor, während und nach seiner 'Wiederentdeckung' 2016, die für die Türkei ja eine Erstaufführung, eine Premiere bedeutete, hat der Film, der nach seiner Uraufführung auf der Berlinale 1986 (siehe Forumsblatt) auf Hommagen und Werkschauen in Kinematheken gezeigt worden war (siehe Frankfurt und Karlsruhe), ein vielfältiges Echo gefunden – von der Türkei (Zaman, Altyazı etc) bis zu Sight and Sound.

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